Wieso die Türkei schon wieder in Turbulenzen steckt?

Nächsten Dienstag, 4. Februar 2014 wird Ministerpräsident Erdoğann zu Regierungskonsultationen in Berlin erwartet. Die Türkei hat sich im letzten Jahrzehnt wirtschaftlich, politisch und sozio-kulturell verändert:
Für die Einen zum Positiven, für die Anderen zum Negativen.

Das Land hat derzeit unter den grössten Wirtschaftsmächten den 17. Rang inne. Zum 100-jährigen Bestehen der Republik – also bis zum Jahr 2023 – hat die Regierung sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, zu den zehn grössten Ökonomien der Welt zu gehören.

Erdogan-Zins

In den letzten Wochen herrscht jedoch Panik an den türkischen Börsen. Ausländische Investoren ziehen ihr Kapital aus den Märkten ab. Dollar und Euro klettern auf ihre historischen Höchststände. Wirtschaft hat eben sehr viel mit Psychologie zu tun. Und diese Psychologie wird sich eher nach den Kommunalwahlen im März wieder normalisieren.

1-P1040037Die Türkei entwickelt seit einigen Jahren zahlreiche eigenständige Projetkte, z.Bsp. im Rüstungs-, Wissenschafts-, Raumfahrts- und Energiesektor. Der Bauboom in der Türkei nimmt atemberaubende Züge an. Wer nach längerer Zeit wieder einmal in der Türkei war berichtete, dass das Land und die Städte kaum noch zu erkennen sind. Ausserdem scheinen die Menschen vom Bau der Straßen und der die Berge durchziehenden Tunnelanlagen beeindruckt zu sein.

In den letzten zehn Jahren wurden in der Türkei 500‘000 staatlich geförderte neue Wohnungen (TOKİ) gebaut. In den 19 Jahre davor seien indes nur 43‘000 neue Quartiere errichtet worden. Angemerkt sind jedoch auch die protzig-glänzenden Einkaufsmalls, von denen es mehrere in fast jeder Stadt gibt und die den mittelständischen Unternehmen grossen Schaden zufügen.

Strassenbau

Strassenbau

Aber dennoch: Bis zum Jahr 2002 beschränkte sich die Länge von mehrspurigen Strassen in der Türkei auf gerade mal 6‘000 km. Zwischen 2002 und 2012 wurde dieses Netz welches lediglich sechs grosse Städte miteinander verbunden hatte auf über 21‘227 km erweitert und führt seitdem 74 Städte zusammen. Inzwischen werden jährlich 1‘500 neue Moscheen gebaut und über 100‘000 Imane ausgebildet.

1-P1030987Noch vor zwölf Jahren konnten Studenten nur auf 70 Universitäten im Land studieren. Im Jahre 2012 wurden hingegen schon 172 Universitäten errichtet. Heute gibt es keine Provinz mehr ohne eine Universität. Die Türkei, die knapp 80 Jahre lang auf vielen Gebieten stagnierte, übersprang in kürzester Zeit mehrere Klassen und sorgte bei vielen Menschen für unglaubliche Blicke sowie neidvolles Erstaunen. Von den Riesenprojekten wie den Bau des dritten Flughafens in Istanbul, der als das grösste der Welt in Planung ist und damit das globale Flugverkehrssystem auf den Kopf stellen wird, einer neuen Meerenge am Bosporos und von gigantischen Schienen- und Transportwegen durch die Meere ganz zu schweigen. Auch die kolossalen Staudammprojekte werden zweifellos einige neidische Blicke auf sich gezogen haben. Was aber das Fass zum überlaufen bringen könnte, sind die seit 200 Jahren ausserordentlich bedeutsamen Energieressourcen und Energierouten, die Erdöl und Erdgas aus den Nachbarländern in die Türkei bringen sollten.

1-P1030556Daher ist es enorm wichtig, für eine dauerhafte und friedvolle Lösung der Konflikte in der Region zu sorgen. Eine Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft im gesamten Nahen- und Mittleren Osten, ähnlich wie die Europäische Union, mit eigenständiger Entscheidungsgewalt und Ressourcenmacht könnte die Region zu der reichsten und prosperierendsten der Welt machen. Es ist erstaunlich, dass gerade die rohstoffreichen Staaten in der Region kaum zur Ruhe kommen. Die Türkei scheint seit einigen Jahren in seiner unmittelbaren Umgebung selbst Regie führen zu wollen. Das wiederum führt nach Expertenmeinungen dazu, dass das Land diszipliniert und eingefangen werden muss. Immer öfter wird vom “Neo-Osmanismus” geschwafelt und damit ein Bedrohungsszenario herauf beschwört. Die Türkei hat sich von einem “Osmanismus” wie vor fast 100 Jahren noch nicht ganz verabschiedet und wird sich auf so ein Abenteuer nicht mehr einlassen dürfen.

1-P1030988

Um jedoch aussenpolitisch im “Konzert der Mächte” gleichberechtigt und eigenständig agieren zu können, gilt,- wenn man es mit den Worten des Historikers Eckart Kehr sagen möchte – das “Primat der Innenpolitik”. Der Fortbestand der gesellschaftlich-politischen Entwicklung der letzten Jahre hängt u.a. auch von der Lösung des jahrzehntelang andauernden sogenannten “Kurdenkonflikts” ab. Ein lang ersehnter Frieden unter den verfeindeten Ethnien sorgte kürzlich auf der einen Seite für Erleichterung. Seit vielen Monaten sterben keine Menschen mehr. Das Blutvergiessen ist vorerst gestoppt. Das ist ein wichtiger erster Schritt.

1-P1030993Für andere wiederum erweiterten sich die Sorgenfalten in den Gesichtern. Die gesamtgesellschaftliche Entschlossenheit zur konfessionellen Eintracht zwischen Sunniten und Alewiten sollte der nächste Punkt für eine dauerhaft stabile Türkei sein. Auch in diesem Punkt gab es in den letzten Monaten gute Entwicklungen. Ein weiterer Punkt wird nach Einschätzungen die verständnisvolle Partnerschaft mit den nicht-muslimischen Minderheiten sein. Die Türkei unternimmt grosse Anstrengungen, die Herzen der Armenier, die in der Vergangenheit als “Millet-i Sadıka” (“Das treue Volk”) bezeichnet wurden, der jüdischen, yezidischen, zoroastrischen und christlichen Geschwister zu gewinnen. Christliche Kirchen, jüdische Synagogen, yezidische Glaubenszeremonien werden nicht mehr als Bedrohung angesehen, wie in den dunklen Zeiten der Republikgeschichte teilweise der Fall war.

Was dieser Tage in der Türkei politisch abläuft, schätzen einige Beobachter als Fortsetzung der Gezi-Proteste ein. Experten wie Prof. Mahir Kaynak gehen davon aus, dass Erdoğan bis zu einem möglichen Rückzug aus der Politik damit zu rechnen hat, dass solche – scheinbar innenpolitischen – Turbulenzen fortbestehen werden. Eine neue und unabhängige Türkei scheint derzeit nicht gewollt!

Die Hürden sind hoch gesteckt. Allen bereits im Vorfeld geäusserten Erwartungen an seine Deutschland-Visite zu entsprechen dürfte für den türkischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einer Quadratur des Kreises nahe kommen. Das gilt nicht zuletzt für Erdogans eigenes Hauptanliegen: die baldige Aufnahme der Türkei als Vollmitglied der EU.

Doch damit nicht genug: Ein Bekenntnis Erdogans zu „Demokratie und Religionsfreiheit“ erwartet die Union im Bundestag. Vertreter der in Deutschland lebenden Türken – etwa der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat – dringen auf die Vereinbarung deutsch-türkischer Kabinettssitzungen. Menschenrechtler fordern eine Entschuldigung für den „Genozid an den Armeniern“, und schließlich soll der Besuch auch noch Erdogans heimischen Wahlkampf beflügeln.
Bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl in Erdogans Heimat sollen in Deutschland lebende Türken nämlich erstmals aus der Ferne ihre Stimme abgeben dürfen. Es geht hierzulande um rund 1,5 Millionen Wahlberechtigte.

Deshalb tritt der türkische Premier und AKP-Vorsitzende vor mehreren Tausend Menschen heute Dienstagabend im Kreuzberger Tempodrom auf. Weitere Zuschauer können die Rede auf Leinwänden vor dem Bau verfolgen. Türkische Sender übertragen live.

Über muck

Senior Projektleiter mit Freude am Sport
Dieser Beitrag wurde unter Alltag, Geschichte, Türkei abgelegt und mit , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.